Terra Nullius – Niemandsland heißt die Ausstellung von Carola Czempik, die ab heute hier im EWE Kunstparkhaus zu sehen ist.

Terra Nullius – das Niemandsland, der Zwischenraum, der Freiraum, der Übergang, der Grenzstreifen….

Die Unschärfe zwischen den gesicherten, bekannten, benennbaren Bereichen. Das Unbekannte, das Fremde, das zu Entdeckende.
Terra Nullius ist ein Thema oder ein Themenraum, den die Künstlerin schon viele Jahre hindurch erforscht, den sie aus immer wieder neuen Perspektiven bearbeitet.

Das Thema hat Bezüge zu Carola Czempiks Biografie und Familiengeschichte. Erlebnisse von Flucht und Vertreibung, typisch deutsche Kriegs- und Nachkriegsbiografien der Eltern und Großeltern. Das Wohnen an Grenzen – zu Polen, Tschechien, Weißrussland – Flucht, Zurücklassen von Familienangehörigen, Besitz und Identität. Bruchstückhafte Erinnerungen. Neuanfänge.
Carola Czempik wurde in Hildesheim geboren, wuchs in verschiedenen Städten Norddeutschlands auf – die Familie folgte den Arbeitsstellen des Vaters.

Zum Studium zog Carola ins damalige Westberlin. Eine Stadt mit einem besonderen politischen Status, eine Insel, um die nach allen Seiten Osten war. Ein weißer Fleck, ein Loch in der Landkarte aus meiner ostdeutschen Perspektive. Umgeben von einem Niemandsland, das Todesstreifen hieß und einer war.
Niemandsland in seiner Bedeutung als Pufferzone, das zwischen den Fronten liegende Gelände. Deutsche Geschichte, die immer wieder aufscheint in den Arbeiten.
Nach dem Fall der Berliner Mauer zieht Carola Czempik an den Stadtrand, nach Glienicke, wohnt direkt am ehemaligen Mauerstreifen. Sie kommt mit Menschen ins Gespräch, die dort wohnen – lange oder ganz neu – und es entsteht eine Reihe von Papierarbeiten NIEMANDSLAND. Diese Arbeit wird in unserer ersten gemeinsamen Duoausstellung in Berlin gezeigt, der weitere folgen. Unsere Arbeiten in den Medien Malerei und Video, unsere Biografien in West- und Ostdeutschland treten in einen Dialog, der immer wieder inspiriert.
Dialog ist eine Grundformel für die Arbeit von Carola Czempik.
Für sie ist die Terra Nullius ein Dialograum – der Zwischenraum, wo Dialog zwischen den Seiten nötig ist und möglich wird. Das hängt mit vielfältigen künstlerischen Interessen zusammen, die sie schon während ihrer Ausbildung verfolgt.

Carola studiert ab 1980 Theater- und Filmwissenschaft sowie Germanistik an der FU Berlin, sie studiert ‚Mime Corporel' und modernen Tanz an der Universität der Künste (damals HDK). Es folgt freie Tanztheaterarbeit in Berlin und in Imperia, Italien. Parallel dazu studiert sie von 1987–1994 an der Universität der Künste Freie Malerei und Bildhauerei. Sie schließt als Meisterschülerin in Malerei ab.
Aus diesen Kenntnissen und Erfahrungen heraus entwickelte sie performative künstlerische Aktionen mit Zeichnung, Rhythmus, Klang und Text. Es gibt eine langjährige interdisziplinäre Zusammenarbeit mit MusikerInnen. In Konzerten und Performances entstehen Notationen und Live-Zeichnungen.
Auch hier das Prozesshaft-Dialogische: Musik und Zeichnung beeinflussen sich. Carola hört die Musik und zeichnet danach, die MusikerInnen lesen die Zeichnungen als Partitur und improvisieren dazu, Carola überarbeitet die Zeichnungen erneut...
Ein Beispiel hier in der Ausstellung ist die Serie „WILDE FURTEN“, die im Dialog mit Sylvia Hinz an der Kontrabassflöte entstand – und natürlich die Musik von Joachim Gies heute Abend.
Wichtig ist der Dialog mit der Literatur. Viele Arbeiten sind von literarischen Texten beeinflusst, ausgelöst. Das wird schon im Titel deutlich: „Schwarze Milch – Arbeiten im Dialog mit Paul Celan“, nach dessen Gedicht „Todesfuge“.
Das Niemandsland als ein Raum des Übergangs, des Sterbens, auch das.
In diesen beiden Bildern „Schwarze Milch” scheinen Porträts auf. In anderen Bildern finden sich Kleiderformen.
In der Tanztheaterarbeit hat sich Carola Czempik intensiv mit dem menschlichen Körper auseinandergesetzt. Die Kleidung als Haut, als zweite Haut, thematisiert die Anwesenheit wie auch die Abwesenheit des menschlichen Körpers.
Ein Bild in der Ausstellung heißt „Das Erste und das Letzte“. „Hemd“ kann man ergänzen. Hemdformen oder „Leibchen“ sind in den Bildern das Äquivalent für die Darstellung des klassischen Torsos.

Hier sind einige Leinwände aus der Reihe „Patria“ zu sehen, in denen Carola auf unterschiedliche Weise mit Kleiderformen arbeitet. In “TERRA NULLIUS”, einem ganz neuen Werk, das auch für die Einladungskarte ausgewählt wurde, ist dieser Torso plastisch, reliefartig, in seiner Form beschnitten und begrenzt, während in „HIMMEL ORT“ aus der gleichen Reihe, die Kleiderformen mit der umgebenden Farbe verschmelzen. Fließende Grenzen. Verletzliche Haut.

In „ABEND MORGEN TAG“ oder der ganz neuen Arbeit „FREMDE SONNEN“ sind es Farblandschaften, in denen wir flanieren können. Niemandslandschaften. Der schnelle Besucher geht vorbei, vom gesicherten Land ins nächste. Wer sich einlässt, in der Terra Nullius zu verweilen, die Bilder zu betrachten, kann Entdeckungen machen. Durch die Farbräume wandern, die Prozesse verfolgen, das Schichten, das Laufen der Farben, die Wechselwirkungen der Materialien, das Schleifen und Abtragen. Entdeckungen von eingearbeiteten Materialien wie Pflanzenfasern oder Spitzenstoffen, genähten Zeichnungen, notizenhaften Schriften... Das alles vibriert in den Farbschichten.

Terra Nullius – vielleicht ist das auch die weiße Leinwand, das weiße Papier – der Malgrund, den sich Carola Czempik schafft.
Auf den sie in feinen Schichten gelöste Pigmente, gemahlene Salze, Papiere übereinander legt. Auf manchen Bildern sind hunderte solcher Lasurenschichten. Die Bilder werden zu malerischen Reliefs oder Leinwandobjekten. Der Bildrand ist einbezogen. Dort sind Farben zu entdecken, die in anderen Bildbereichen schon längst wieder übermalt, überschichtet worden sind.
Die Leinwände brauchen keinen Rahmen, sie treten in den Dialog mit der Wand.

Carola Czempik arbeitet vorwiegend in Serien von großformatigen Leinwänden. Vielleicht ist auch das beeinflusst von der Körperarbeit – die große Geste, die Bewegung auf einer den Körpermaßen entsprechenden Fläche? Den Dialog der Künstlerin mit dem entstehenden Werk kann ich mir vorstellen – nicht als stilles Zwiegespräch, eher als eine lautstarke, temperamentvolle, streitbare und schließlich fruchtbare Auseinandersetzung.
Dialogisches Arbeiten auch mit den Materialien auf der Leinwand: Carola Czempik bringt in malerischen Prozessen Naturmaterialien zusammen, die sonst nie aufeinandertreffen würden. Gesteine, Pigmente, Fasern werden gemörsert, gelöst und gebunden, entwickeln Beziehungen oder sträuben sich.

In Gesprächen berichtet Carola leidenschaftlich von widerspenstigen Steinen, aufbrechenden Krusten, wasserresistenten Fasern, chemischem Hüttenkäse. Die Künstlerin hat über Jahre des Experimentierens u.a. eine Technik erfunden, Salz so auf der Leinwand zu binden, dass es stabil bleibt. Salz als Urstoff des Lebens nimmt eine zentrale Stellung innerhalb ihrer Arbeitsmaterialien ein. Hier in der Ausstellung ist die 48teilige Serie „SALZASCHE“ zu sehen.
Ausgehend von den Erfahrungen in der Steinbildhauerei hat sie eine eigene Gesteinsmehltechnik entwickelt. Sie schichtet gemahlenen Basalt, Granit, Quarz, Schiefer, Alabaster, sowie Tonerden und Salz mit farbigen Pigmenten. Gelöst in Wasser und speziellen Bindemitteln entfaltet sich eine spezifische Rhythmik der Stoffe. Carola bezeichnet diesen Arbeitsprozess als umgekehrte Archäologie.
Wie eine Naturforscherin, Chemikerin, Alchimistin experimentiert Carola in ihrem Atelier, erprobt Kombinationen und Bindemittel. Manche Arbeiten und Installationen spiegeln diesen Prozess. In der Ausstellung hier ist die 48-teilige Installation „ARCHIVE 1 – Im Spiegelsaal aber“, die an eine Laborsituation, Versuchsanordnungen, Versuchsfelder erinnert. Mikrokosmos – Makrokosmos. Salzgalaxien, Erdkrusten, Inseln.

Eine Insel ist vielleicht auch das neue Objekt „HERE I AM LIVING“, bestehend aus Bitumen, Spinell, Grafit, Kohle, Kapokfaser, Baumwollgaze, Acryl und Harz.
Eine Insel, die für die in den Figuren der Installation „NACHTFAHRTEN“ symbolisierten Menschen überlebenswichtig ist.
Niemandsland – Terra Nullius – ein Zustand der Balance, eine Gratwanderung, eine Reise ins Ungewisse. Möglichkeiten des Absturzes, des Versinkens, des Scheiterns oder des Schwebens.

Lassen Sie mich schließen mit den Worten der Galeristin Jo Eckhardt zur Ausstellung „Poesie der Materie“, 2009:
„Das Poetische der Materie erscheint, wenn in künstlerischer Aneignung und Verwandlung aus dem Stofflichen das Sinnliche wird und das Unendliche zu erahnen ist (…) Carola Czempiks Malerei berichtet von dem Versuch, die Welt in ihrem Grundaufbau zu verstehen und zu deuten, was hinter dem Sichtbaren verborgen bleibt