Ich erinnere mich noch sehr genau, dass mein Mann und ich vor einigen Jahren Carola Czempiks Arbeiten im Internet ansahen und uns gleich einig waren, sie zu unserer Jubiläums-Hofkultur am Galm im Jahr 2014 einzuladen. Und mir ist noch ganz gegenwärtig, wie ich dann ihre Arbeiten das erste Mal im Original am Galm sah. Sie übten eine große Faszination auf mich aus, ohne dass ich mit Worten sogleich hätte beschreiben können, was diese ausmachte. Immer wieder stand ich abends, wenn es still war in unserer Galerie vor ihren Bildern und es ging ein eigenartiger Sog von ihnen aus. Ich spürte, dass da viel mehr war als nur die Oberfläche und die Farben und wusste, dass wenn ich dem Geheimnis, was sie zu bergen schienen, auf die Spur kommen wollte, mich intensiver einlassen musste.
„Kunst wird erst dann interessant, wenn wir vor irgendetwas stehen, das wir nicht gleich restlos erklären können“, meinte Christoph Schlingensief.

Nun bin ich ja keine Kunsthistorikerin, sondern Kunstpädagogin und mein Anliegen war immer, Menschen zu helfen, einen Zugang zu Äußerungen Bildender Kunst zu finden. Ich könnte Ihnen jetzt viel erzählen in welcher kunstgeschichtlichen Tradition ich die Arbeit von Carola Czempik verorte, aber befürchte, dass diese akademische Herangehensweise viele, die nicht ohnehin ständig mit Kunst befasst sind, langweilt und sie eher unbeteiligt bleiben lässt.

Wo und wie also bekommen wir „einen Fuß in die Tür“? Wo finden sich ganz unmittelbare Anhaltspunkte, an Hand derer wir uns auf Spurensuche begeben können? Ein Weg ist, Carola Czempik zu befragen - das habe ich getan - ein anderer Weg, in ihren Bildern nach Hinweisen zu suchen, wo wir einhaken können.

Da sind zunächst einige Titel, die uns auf die Spur setzen. „LA MER“ und „La Mer Dernier But“, „In Gewässern“ oder „Fluten“ ist da zu lesen oder auch Worte sind zu entziffern, etwa „Meer, was denkst Du?“. Es geht also um Wasser, um das Meer. Seit Jahren beschäftigt Carola Czempik dieses Thema.
Quer durch die Kunstgeschichte finden sich sogenannte Seestücke und viele Künstler, von Corinth, über C.D. Friedrich, Turner, van Gogh und Monet, um nur einige zu nennen, haben sich dem Sujet Meer immer wieder zugewandt.

Was nun ist das Besondere bei Carola Czempik in der Auseinandersetzung mit diesem uralten Sujet? Suchen wir weiter:
Wir finden weiter die Worte „MARE NOSTRUM“, in der römischen Antike der Begriff für das Mittelmeer und ganz direkt aus dem Lateinischen übersetzt: unser Meer. Es geht um unser Meer.

MARE NOSTRUM erinnern wir uns, war auch der Name der rein italienischen Hilfsorganisation, die über 150.000 Flüchtlinge rettete, die über das Mittelmeer in teils armseligen Nussschalen flüchteten.
Die Europäische Weiterführung mit Namen „FRONTEX“ sollte dann keine Rettungseinsätze auf hoher See mehr durchführen, sondern allein im küstennahen Bereich.

Heribert Prantel sagte dazu in der Süddeutsche Zeitung:
„Es ist beschämend, dass die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete EU nicht einmal gewillt ist, die Kosten für das grandiose italienische Rettungsprogramm Mare Nostrum zu übernehmen. (…) Europas Politiker waschen sich ihre Hände in Unschuld – in dem Wasser, in dem die Flüchtlinge ertrinken.“

Wir beginnen zu ahnen: Es geht Carola Czempik um weit mehr als nur um Naturdarstellung. Ihre Arbeit ist komplex und vielschichtig. Sie verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz und ihre Arbeit ist niemals Selbstzweck. Jenseits von Nützlichkeitsüberlegungen nimmt Carola Czempik sich die Freiheit, Dinge, die um ein Thema kreisen, auf unterschiedlichen Ebenen zu erkunden und zu verfolgen.
Der Titel der Ausstellung „Ganz innen“ mag ein Hinweis sein auf ihre eigenen tiefgründigen Emotionen, auf ihre Zweifel, ihre Gedanken, ihre Verwerfungen und Fragen. Ebenso kann er auf das „Ganz-Innen“ in den verborgenen Tiefen des Meeres hindeuten, auf all die darin sich befindenden Moleküle und unerforschten Lebewesen. Vielleicht verweist dieser Titel aber auch auf die letzten Gefühle und Gedanken, auf die Angst und Verzweiflung der vielen Menschen, denen das „mare nostrum“ zum Grab wurde und deren Geschichten und Hoffnungen mit ihnen versanken und die wir nie mehr erfahren werden.

Aufschlussreich und nicht unwesentlich zu erwähnen ist, dass Carola Czempik nicht nur Malerei und Bildhauerei studierte, sondern auch Germanistik und Theaterwissenschaften. Sie fertigt ihre Zyklen zumeist im Dialog mit literarischen Quellen.

Begleitend zu den Arbeiten in dieser Ausstellung liest sie z. B. von Albert Camus „LA MER, Ein Bordtagebuch“ oder Gedichte des spanischen Dichters Rafael Alberti.

Manchmal finden sich Textfragmente in ihren Arbeiten wieder, die aber nicht illustrierend wirken, sondern vielmehr zu einem essentiellen Bestandteil der Arbeit werden.

Ihre Themen sind komplex, sie will bewusst weg vom Eindeutigen. Das gibt es für sie nicht. Die Welt ist nicht eindeutig. Eindeutig ist Carola Czempik aber in ihrer Haltung zur Welt: Die ist geprägt von langer, genauer Beobachtung, von der intensiven Auseinandersetzung mit einem Thema, vom Respekt vor der Schöpfung und dem Wunsch mit ihren ganz eigenen künstlerischen Mitteln in Dialog mit Menschen zu treten.
So dienen auch ihre mehrmals im Jahr durchgeführten Kunstworkshops nicht nur dem Gelderwerb, sondern verfolgen das Ziel, Menschen zu ermuntern, sich mit Mitteln der Kunst zu entwickeln.
Ihre Herangehensweise ist vielschichtig, auf verschiedenen Ebenen, aber nicht beliebig -
weder, was die Wahl der künstlerischen Mittel und Materialien angeht, noch was die geistigen, philosophischen und emotionalen Bezüge betrifft. Die intellektuelle Auseinandersetzung mit Texten gehört begleitend ebenso zu ihrer Arbeit wie das unmittelbare Erleben des Meeres zu unterschiedlichen Tageszeiten und bei unterschiedlichen Wetterbedingungen. Die farblichen Nuancen Ihrer Meerbilder mögen davon zeugen.
Im Gespräch mit ihr machte sie mich aufmerksam auf das Buch „Die Philosophie des Meeres“ von Gunther Scholz.

Steffen Richter schreibt in einer Rezension dazu im Berliner Tagesspiegel: Zitat „…(es ist) ein Umherschweifen zwischen Geschichts-, Natur- und Technikphilosophie, zwischen Naturrechtsdenken, Ästhetik und Theologie. Immer aber geht es um die Frage, wann und zu welchen Zwecken die Philosophie das Meer und Meeresbilder in Anspruch genommen hat. Eins ist klar:
Der Mensch verändert das Meer: der Mensch mit seiner Wissenschaft und Technik, mit seinen Zwecken verändert es. Salopp gesagt: Er macht es zur „Müllsuppe“ – und das ist keineswegs eine Frage der Ästhetik.
Was mit der natürlichen Lebenswelt geschieht, kann uns „zweibeinigen Landtieren“ schließlich nicht gleichgültig sein.“

Christoph George verweist darauf, Zitat, „dass die Philosophie auf bildliche Ausdrucksweisen, auf Metaphorik, nicht verzichten kann – ja sie lebt davon. Ebenso entnehmen wir viele unserer täglichen Ausdrucksweisen dem großen Thema des Meeres, um damit vor allem Veränderungen in der Welt zu bezeichnen: so den Fluss der Zeit, die geistige Strömung, die Welle der Mode, der politische Dammbruch, die Flut der Migranten usw.“

Bei der großformatigen 10-teiligen Reihe hier an der Hauptwand mit dem Titel „Haus der Gewässer“ versucht Carola Czempik sich diesem Thema „Meer“ immer wieder auf andere Art und Weise zu nähern. Der Titel der 10-teiligen Arbeit findet sich in einem Textabschnitt zu Beginn des Bordtagebuches von Albert Camus „La Mer“.

Zitat: „Ich wuchs im Meer auf, und die Armut schien mir kostbar; dann verlor ich das Meer, und aller Luxus erschien mir fortan grau und das Elend unerträglich. Seither warte ich. Ich warte auf die Schiffe der Rückkehr, auf das Haus der Gewässer, auf den hellen Tag.“
Dieses Essay wird für Carola Czempik zum Anlass für diese 10-teilige Arbeit.

Jedes dieser Bilder aus der Reihe „Haus der Gewässer“ ist das Ergebnis eines langen Prozesses, von dem auch Carola Czempik selbst am Anfang noch nicht recht weiß, wie das Ergebnis am Ende sein wird. Dieser Prozess beginnt ganz simpel mit dem Bespannen und Grundieren der großformatigen Leinwände. Man kann es sich vorstellen, wie das Bauen des Fundamentes eines Hauses, ihres Hauses, der Kunst, die ihr Heimat ist, in der sie sich zu Hause fühlt, eine Art existentielle Notwendigkeit, in der es ihr möglich wird, sich jenseits von Sprache, weg vom Eindeutigen auszudrücken. Man kann diese Reihe verstehen als philosophische Arbeit zum Individuum, das sich durch das existentielle Unterwegs-sein und die fehlende Orientierung verlieren kann. Vieles schwingt in diesen Arbeiten mit: das Wasser, aus dem wir alle kommen, und das die größte Gefahr birgt für uns zweibeinige Landtiere, die Liebe und Sehnsucht zum Meer, der Rettungsgedanke, der trügerisch sein kann, der griechische Mythos der letzen Totenreise.

Als ich Anfang April diese Arbeiten in ihrem Atelier das erste Mal sah, sahen sie noch ganz anders aus. In ihrem Atelier eine Vielzahl von Farbpigmenten, Gesteinsmehlen, Salzen und Bindemitteln. Carola Czempik experimentiert malerisch mit gemahlenen Steinen, Pigmenten und Wachs auf Leinwand und Papier. Sie lässt die Dinge fließen, sich entwickeln und weiß mitten im Prozess, der sich über Monate erstrecken kann, oft selbst noch nicht, wohin dieser Prozess sie führen wird. Sie gibt den Dingen Raum: „ Mal schauen, wohin mich die Arbeit noch trägt!“ sagt sie.

Die Exponate, die großen wie auch die kleineren Arbeiten auf Leinwand oder auf Papier, mit ihren reliefartigen Oberflächen, teils aber auch ganz transparent, lassen vielfältige Assoziationen zu, z.B. von aufgewühlter See, von „Müllsuppe“ oder von geheimnisvollen Molekülen in großer Tiefe. Auf einigen sehen wir Umriss-Zeichnungen von leeren Booten. Das Skizzenhafte dieser Zeichnung hat etwas Provisorisches, Zerbrechliches und lässt an verlassene Kähne denken, die zum Teil schon unter der Wasseroberfläche bald ganz versunken sein könnten.
Darüber hinaus lassen die Arbeiten genügend Raum für unsere eigenen Assoziationen. Sie legen uns in unseren Gedanken und Interpretationen nicht fest. Die Titel mögen uns Hinweise geben - sie beschreiben aber nichts, vielmehr eröffnen sie eine weitere poetische Dimension. Carola Czempik unterlegt ihre Arbeiten zum Teil mit lyrischen Textfragmenten und wenn Sie mögen, können Sie diesen Spuren folgen.

„Panta rhei“- alles fließt - Heraklit fand den Ursprung von Himmel und Erde im Meer. Alles geht in sein Gegenteil - „Das Kalte wird warm, Warmes kalt, Feuchtes trocken, Trockenes feucht. Jede neue Stufe existiert nur dadurch, dass sie die vorangegangene Stufe vernichtet.“ Ähnliches findet sich auch in Carola Czempiks Schaffensprozess wieder.

Alles fließt - „Kein Anfang und kein Ende“ heißt eine Reihe kleiner quadratischer Arbeiten.

Und zu ihrem Vorgehen erfährt man von ihr: (Zitat)
„Ich dekonstruiere das Material, indem ich seine Aggregatzustände in eine neue Ordnung führe.
Meine Arbeiten entstehen in einem Prozess umgekehrter Archäologie. Mineralische Gesteine, wie Marmor, Basalt, Granit, Quarz und Schiefer werden als Gesteinsmehle mit Wasser und speziellen Bindemitteln gemischt und in dünnflüssigen Lasuren im Wechsel mit feinen Aufträgen aus Pigmenten, Wachssalbe, Kohle, Grafit und Salz geschichtet. Durch die Interaktion von Verflüssigungen und Verfestigungen entwickelt sich ein rhythmischer Prozess. Neue molekulare Verbindungen werden aufgebaut und das Material seiner Herkunft entfremdet.“
In ihren Papierarbeiten arbeitet sie oft mit Schichtungen hauchfeiner Japan-, China- oder Himalaya-Papiere - bei manchen liegt die Grammatur unter 9 Gramm.

So gräbt Carola Czempik nicht, um etwas aufzudecken, sondern legt vielmehr Schicht auf Schicht und orientiert sich damit eher am urzeitlichen Entstehen und Vergehen der Natur.
Diese Schichtungen tragen zu den Assoziationen von geheimnisvoller Tiefe bei. Eine Tiefe, die unergründbar scheint, wie auch das Meer noch viele Geheimnisse über das Leben und die Beschaffenheit in großer Tiefe für sich behält.

Oft findet man in ihren Bildern Symbole - „Ich schicke Symbole auf den Weg“ sagt sie dazu. Immer wieder tauchen z.B. diese Leibchen auf. Die Journalistin und Autorin Michaela Nolte sagte dazu: (Zitat)

„Es ist dieses Erinnern, das Carolas Bilder und Zeichnungen hervorrufen. Das Erinnern als Phänomen, das sie mit ihren abstrahierenden Formen und ihren Material-Untersuchungen anregt. Auf der sichtbaren Ebene fallen - wiewohl abstrahiert - Kleider, Leibchen, Höschen oder Hemden auf. Doch schon die verschiedenen Arten, mit denen Carola ihnen Gestalt verleiht, verweisen auf das Zeichenhafte. Es geht nicht um modische oder persönliche Accessoires. Das Kleidungsstück wird vielmehr zu einem imaginären Körper, zum Symbol für einen Menschen, der es einst getragen hat, – mit ihm verbunden war.“
Für sie selbst sind die Leibchen Symbole für den Torso, die Körpermitte, der Ort, wo das Herz schlägt.

Diese Leibchen, als letzte Verweise auf Menschen, die sie einst getragen haben, scheinen wie eine Haut auf der Wasseroberfläche zu schwimmen und lassen die Menschen dahinter dennoch anonym bleiben wie viele Abertausende, die im Meer ertrunken sind und von denen nichts zu bleiben scheint.

Die Theaterautorin Maxi Obexer sieht die Kunst in der Pflicht: (Zitat)
„Wenn wir uns immer nur das Schreckliche ansehen, die Katastrophenberichte durchlesen, diese ganze mediale Realität, wenn wir uns immer nur beliefern lassen von dieser medialen Realität, die eben auch eine ganz große Konformität annimmt, dann landen wir immer in dieser Denkfalle: Gott, es ist alles so schrecklich. Was kann man bloß tun? Und ich glaube, Kunst und Kultur muss zu anderem in der Lage sein. Nämlich Handlungsräume aufzutun um damit eben auch Denkfallen zu überwinden.“
Dieses Statement macht sich Carola Czempik durchaus zu eigen.

Anders als das stereotype Entsetzen, das uns alle befällt bei den wiederkehrenden Nachrichten von Flüchtlingsschicksalen, findet Carola Czempik eben diese anderen Handlungsräume in ihrer Kunst und ihre Betroffenheit setzt sie um in künstlerische Arbeit. Sie stellt der medialen Realität ihre ganz eigenen vielschichtigen Bilder und Installationen gegenüber.

Dabei geht es um die Flucht über das Meer, aber keinesfalls nur darum. Carola Czempiks Bilder lassen viele Assoziationen zu und können Anlass sein über unser Verhältnis zum Meer und zur Schöpfung und zu unserem Umgang damit nachzudenken. Verbinden die Meere uns oder trennen sie uns? Gehören sie der ganzen Menschheit oder betrachten wir sie nur noch unter Nützlichkeitserwägungen? Bringt unser Konkurrenzkampf um ökonomische Macht gleichermaßen nicht nur verarmte Menschen, sondern auch zerstörte Natur mit sich? Geht uns das Meer als Sehnsuchtsort und das Gefühl für die Schönheit und Erhabenheit der Natur verloren? Was müssen wir ändern, um die Schöpfung zu bewahren? Müssen wir nicht endlich weg von Betroffenheits-Äußerungen hin zu aktivem Handeln kommen?

Carola Czempiks Arbeit regt an, uns diesen und vielen weiteren, auch Fragen zu unserer eigenen Existenz zu stellen. Ihre Kunst ist ihr Angebot zur Kommunikation sowohl über ihre Kunst, als auch zu grundlegenden philosophischen, ethischen, politischen und emotionalen Fragestellungen.

Annette Göschel
Kunstpädagogin, Kunsthof Galm, Brandenburg