Fliegen Kleiderstücke durch Bilder. Fliegen Formen und Nähte, Linien – ziehen ihre Kreise durch den Luftraum. Fliegen Papier, Stoff- oder Fadenfetzen durch die Bildwelten von Carola Czempik. Doch so federleicht dieses „flieg ich“ klingt, so beschwingt und flüchtig die Hemdchen, Höschen und Leibchen anmuten, so kompakt fertigt Carola ihre Bilder.
Für die Malerin bildet natürlich die Farbe einen wesentlichen Ausgangspunkt. Wenn diesen Bildern eine eigenwillige, eine bemerkenswerte Farbigkeit eigen ist, so, weil die Künstlerin die Farbe nicht nur als Malmittel einsetzt, sondern sie erforscht und mit ihren Bestandteilen experimentiert. Mithin die Farbwirkungen durchdringt. Aus Steinen, die sie findet oder die Freunde ihr zusenden, die von dieser Obsession wissen, fertigt Carola Gesteinsmehle, die nach der Bearbeitung so fein sind wie Pigmente; probiert verschiedenste Binder aus: Acryl, Wachs oder Öl, Minerale wie Marmor, Granit oder Schiefer halten Einzug, Pflanzen, Tonerden und - als ein ganz zentraler Werkstoff - Salz. Eine der Ursubstanzen der Erde und des menschlichen Körpers. Ein Material, das in der bildenden Kunst allerdings eher selten vorkommt. Hauchdünne Papiere, manchmal auch textile Gewebe werden mit Salzlasuren bestrichen oder in Salzlaugen eingelegt, getrocknet, wieder eingelegt und wieder getrocknet. Manche der Salzpapiere bestehen am Ende aus bis zu 20 Schichten.

Carola Czempiks Atelier ist denn auch nicht voller Farbtuben und Pinsel – wie man es bei Malern eigentlich erwartet –, sondern gleicht mit all den Gesteinen und Pulvern eher einer Alchemisten-Küche. Tatsächlich haben auch die Materialprozesse, die sie erforscht, etwas Alchemistisches. „Wenn ich das Salz mit einem falschen Acrylbinder mische“, so die Künstlerin, „entsteht in sekundenschnelle ein Gemisch, das an synthetischen Hüttenkäse erinnert.“

Durch die komplexen Schichtungen und stofflichen Reaktionen kommen bisweilen Materialspuren aus dem Untergrund hervor, andere dringen von der Oberfläche in die Tiefe – verschwinden mithin. Derlei Prozesse lassen die ganz spezielle Struktur dieser Bilder entstehen. Gleichsam dicht und durchlässig, mal rau, mal zart, manchmal reliefartig entfalten sie eine haptische Qualität und Tektonik, so dass man sagen kann: Carola malt nicht nur, sie baut ihre Bilder.
So in dem Kleinformat im Eingangsraum, bei dem im rechten, unteren Bereich aus einer blauen, körnigen Salzkruste eine Art Hemd entsteht, während sich über das linke Drittel hauchfeines Himalaya-Papier zieht, dessen amorphe und diaphane Fragmente selbst zur malerischen Struktur werden. Darauf wie schwebend ein Kleid, dessen Umriss von einem Faden markiert wird. Noch so eine von Carolas - im Sinne traditioneller Malerei - recht unorthodoxen Methoden. In dem weißtonigen Kleinformat im vorderen Raum lassen kreisende Bleistiftstriche entfernt an ein Schnittmuster denken. In dem Großformat vis-à-vis oder dem blauen Leibchen-Detail sind Nahtstiche und Konturlinien eingenäht – zum Teil sogar mit einer Nähmaschine. Das ist als künstlerische Technik in der Tat etwas keck. Als Bild gestaltendes Mittel jedoch evozieren Carolas Fäden Spuren von Verletzlichkeit. „schmerzt mich nicht“ heißt die Serie.

In seinem Essay Der Ariadnefaden ist zerrissen schreibt der Philosoph Michel Foucault: "Ariadne war es müde, auf Theseus' Wiederkehr aus dem Labyrinth zu warten, auf seinen monotonen Schritt zu lauern und sein Gesicht unter all den flüchtigen Schatten wiederzuerkennen. Ariadne hat sich erhängt. An der aus Identität, Erinnerung und Wiedererkennung verliebt geflochtenen Schnur dreht sich ihr Körper nachdenklich um sich selbst. Der Faden ist gerissen. Theseus kommt nicht wieder. Er rennt und rast, taumelt und tanzt durch Gänge, Tunnels, Keller, Höhlen, Kreuzwege, Abgründe, Blitze und Donner.“1
Der Foucaultsche Faden tanzt in den Bildern von Carola. Doch drehen sich die Körper nicht nur um sich selbst, sondern knüpfen neue Fäden, reflektieren Irrungen und Wirrungen und verästeln sich zu Sequenzen, die ebenso bodenständig wie surreal anmuten. Der Faden wird den Formen und Figuren zum Halt oder zur verbindenden Schnur, aber auch zur Fessel. Wird zur gestaltenden Linie, die sich sichtbar behauptet oder unsichtbar im Labyrinth der gedanklichen Zwischen-Räume weitergesponnen wird.

Wie bereits erwähnt lautet der Titel „schmerzt mich nicht“. Auch so ein schwebender, flugartiger Halbsatz, der einen Kontrapunkt bildet zu den Schichtungen und zur Tektonik dieser Arbeiten. Ebenso wie die Hochformate der Serie „weiße Sohlen betreten den Wind“. Ein Zitat aus einem Gedicht von Johannes Bobrowski. Das „schmerzt mich nicht“ stammt aus Ingeborg Bachmanns Tage in Weiß:
In diesen Tagen schmerzt mich nicht,
daß ich vergessen kann
und mich erinnern muß.2

Es ist dieses Erinnern, das Carolas Bilder und Zeichnungen hervorrufen. Das Erinnern als Phänomen, das sie mit ihren abstrahierenden Formen und ihren Material-Untersuchungen anregt. Auf der sichtbaren Ebene fallen - wiewohl abstrahiert - Kleider, Leibchen, Höschen oder Hemden auf. Doch schon die verschiedenen Arten, mit denen Carola ihnen Gestalt verleiht, verweisen auf das Zeichenhafte. Es geht nicht um modische oder persönliche Accessoires. Das Kleidungsstück wird vielmehr zu einem imaginären Körper, zum Symbol für einen Menschen, der es einst getragen hat, – mit ihm verbunden war.
Das Christentum kennt diese stellvertretende Funktion von Gewändern für den abwesenden Menschen in allerlei Formen. Von der alttestamentarischen Josephsgeschichte, über die textilen Heiligenreliquien bis hin zum Schweißtuch der Veronika, das das Antlitz Jesu Christi als Abdruck trägt. In der Malerei hat René Magritte das Thema unter anderem in dem Bild „In Memoriam Mack Senett“ aufgegriffen.
In seiner Abhandlung „Der Mensch, eine zweifelhafte Existenz“ schreibt der Philosoph Gilles Deleuze: „In unserer heutigen Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken. Diese Leere stellt kein Manko her, sie schreibt keine auszufüllende Lücke vor. Sie ist nichts mehr und nichts weniger als die Entfaltung eines Raums, in dem es schließlich möglich ist zu denken.“3
In diesem Denk-Raum, in der Anverwandlung von Sprache treten die Worte bei Carola in den Bildraum. Tauchen gleich Erinnerungen auf. Doch geht es nicht um die Lesbarkeit, um einen wie auch immer gearteten Inhalt, den die Künstlerin uns vorgeben will. Vielmehr handelt es sich um Schemen von Sprache. Die Schrift ist fragmentarisch, steht auf dem Kopf, ist immer wieder überschrieben, so lang, bis sie eine Erinnerung an Schrift, – bis sie selbst zu einem neuen Zeichen wird.

Carola entwickelt ihre Bilder und Zeichnungen im Dialog mit Lyrikern wie Johannes Bobrowski oder Ingeborg Bachmann oder mehr noch: im Dialog mit deren intensiver Lyrik, die Carola wiederum in ihre intensive Bildsprache transformiert. Was in diesen Dialogen mit den Zitaten geschieht, ist das genaue Gegenteil von Illustration. Und so gilt, was Durs Grünbein in dem Aufsatz „Z wie Zitat“ über den Schriftsteller berichtet, in gleichem Maße für die bildende Künstlerin Carola Czempik. Für Grünbein ist das Zitat ein Zeichen für Dialogfähigkeit. „>Das Zitat ist keine Abschrift. Zitate sind Zikaden.< Sie zirpen und zirpen …“4, zitiert Grünbein den Dichter Ossip Mandelstam.

Carola Czempik wurde 1958 in Hildesheim geboren. Mit 18 Jahren ging sie nach Berlin, wo sie an der heutigen Universität der Künste zunächst ‚Mime Corporel’ und modernen Tanz studierte. Parallel dazu nahm sie das Studium der Germanistik und Theaterwissenschaften an der Freien Universität auf. Letzteres hat sie 1983 mit dem Magister abgeschlossen. Doch vier Jahre danach zog es Carola wieder an die damalige Hochschule der Künste zurück. Sie studierte Bildhauerei und wiederum parallel dazu freie Malerei und erlangte als Malerin 1994 ihren Meisterschülertitel.
Das ist nicht nur erwähnenswert ob der beeindruckenden Vita, sondern weil diese einzelnen Wege durchaus im Werk von Carola weiterwirken.
Eben zirpen und zirpen und im „flieg ich“ an uns, die Betrachter, weitergetragen werden. Aus der Germanistik rührt die Liebe zur Literatur, der Dialog mit der Lyrik her, aus der Bildhauerei der unbefangene Umgang mit den unterschiedlichsten Materialien, das Handwerkliche und Bodenständige. Vor allem aber lässt dieser Werdegang auf eine höchst ausgeprägte Neugierde schließen. Auf diesen Forschergeist, der Carola zu immer neuen Materialexperimenten antreibt.

Denn der oben erwähnte Dialog findet eben nicht nur mit der Lyrik statt, sondern auch mit den Materialien. Das Erforschen, die langjährige Erfahrung, das stete Hinzufügen und Wegnehmen, Schichten und Schmirgeln –, all das sind ganz handfeste Tätigkeiten, aus denen die tiefe Poesie dieser Bilder entsteht. Diese Poesie ist bei Carola jedoch nie schwärmerisch oder gar esoterisch. In der Beschaffenheit der Oberflächen wird der Gefahr des allzu Leichten eine geradezu schroffe Materialität entgegensetzt, die an tektonische Platten denken lässt, an erdgeschichtliche Verschiebungen. Wenn Carola Erde oder natürliche Stoffe verwendet, so interessieren sie vor allem die evolutionären Prozesse. Die Strukturen der Natur und ihre Ordnung. Es geht also nicht um Naturmystizismus oder eine romantische Verklärung.
 
In ihrer Untersuchung „Das Material in der Kunst“ schreibt die Hamburger Kunsthistorikerin Monika Wagner: „Neben der häufig inszenierten Formlosigkeit ist die wohl wichtigste Eigenschaft von Erde, wenn sie in der Kunst nach 1945 auftritt, ihre Speicherfähigkeit. (…) Diese Funktion steht in Beziehung zu Ursprungsmythen der Erde und ihrem Status als einem der vier Elemente. Das heißt, Erde war immer schon da. Sie ist als Tabula rasa nicht zu haben, sondern als >Urstoff< stets schon bedeutungsschwanger.“5
Dem setzt Carola die Leichtigkeit aber auch einen leisen Humor entgegen. Nicht zuletzt arbeitet sie auch mit synthetischen Bindern. „Ich hab nichts gegen Chemie“, so die Künstlerin. Womit sie der Erde als Urstoff – auch wieder etwas von der Bedeutungsschwere nimmt. Wie in „membrana“, dem Materialbild im vorderen Raum, in dem der Stoff zu einem felsenartigen Charakter gesteigert, verwandelt ist. Wie beiläufig lehnt an der rechten Seite eine Leiter, die an Joan Mirós Illustrationen zu Henry Millers Erzählung „Das Lächeln am Fuße der Leiter“ erinnert. Oder das Hochformat aus der Serie „weiße Sohlen betreten den Wind“, wo sich aus den steinigen Grau-in-Grau-Tönen eine ganz leichte, witzig-charmante Figur zu schälen scheint. Der englische Autor Gilbert Keith Chesterton, der Erfinder von Pater Brown, hat einmal die Frage aufgeworfen, warum Engel fliegen können? „Engel können fliegen, weil sie sich leichter nehmen können.“6

Es gäbe noch viel zu erzählen –, über Carolas Dialoge mit der Musik und mit dem Tanz, über den Aspekt der Bewegung wie er nicht zuletzt in den Zeichnungen „wenn verlassen sind“ so spannend variiert wird. Doch möchte ich Ihre Geduld nicht überstrapazieren und mit Johannes Bobrowski zum Ende zu kommen:
Wenn verlassen sind
die Räume, in denen Antworten erfolgen, wenn
die Wände stürzen und Hohlwege, aus den Bäumen
fliegen die Schatten, wenn aufgegeben ist
unter den Füßen das Gras,
weiße Sohlen betreten den Wind – 7

1 Michel Foucault „Der Ariadnefaden ist gerissen“ in: Gilles Deleuze | Michel Foucault „Der Faden ist gerissen“, S. 7, Merve Verlag, Berlin, 1977.
2 Ingeborg Bachmann „Sämtliche Gedichte“, S. 122, Piper Verlag, München, 7. Auflage, 2010.
3 Gilles Deleuze „Der Mensch, eine zweifelhafte Existenz“ in: Gilles Deleuze | Michel Foucault „Der Faden ist gerissen“, S. 17, Merve Verlag, Berlin, 1977.
4 Durs Grünbein „Z wie Zitat“ in: Ders. „Warum schriftlos leben“, S. 73, edition suhrkamp, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2003.
5 Monika Wagner „Das Material in der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne“, S. 111, Verlag C. H. Beck, München, 2001.
6 Gilbert Keith Chesterton „Orthodoxy“, zitiert nach http://www.gutenberg.org/cache/epub/130/pg130.txt
7 Johannes Bobrowski „Die Gedichte“, S. 179, in: Johannes Bobrowski „Gesammelte Werke“, Band 1, hrsg. von Eberhard Haufe, Union Verlag, Berlin, 1987.

Michaela Nolte
Journalistin, Autorin und Kuratorin, Berlin, September 2011