"Von Flugsand
ausgewaschen die beiden
Höhlen am untern Stirnsaum.
Eräugtes
Dunkel darin.“
– heißt es in Paul Celans Gedicht 'Heute und Morgen'. Es geht um das Auge und das Dunkel darin: die Pupille oder gleich die ganze Augenhöhle, vom Augapfel entkernt. Es geht um Sehen und das Unvermögen zu sehen, um Blindheit – der Wahrheit gegenüber aber auch um die blinde Liebe oder die Liebe, die ja bekanntlich blind machen kann.

Eräugtes Dunkel kann aber auch auf das spezielle Sehen einstimmen, mit dem wir, die Betrachtenden, uns den Werken von Carola Czempik nähern, in sie vordringen können. Von der mal krustigen, mal glatten oder verwobenen Oberfläche eintauchen in die diversen Schichten der Bilder. Manche bis zu zwanzig, in den vier Arbeiten der Serie „Eräugtes Dunkel darin“ noch viele mehr.

Sprungbretter der Phantasie
Das eräugte Dunkel, die Ruhe, die Kontemplation, der Raum, in dem unsere Phantasie aufblühen kann. Trotz der Fähigkeit unseres Sehnervs die Lichtempfindlichkeit um das Tausendfache zu erhöhen, kann unser Auge nicht jede einzelne dieser Lagen aus den verschiedenen Papieren auf Leinwand, aus Salzen oder Spinell sehen. Doch im Untergrund bilden sie die Sprungbretter der Phantasie. Wir sehen gleichsam mit dem inneren Auge.
Hin und wieder wächst eine Blüte aus dem Gelesenen, dem Er-lesenen; aus Eräugtem graben sich Landschaftsformen ein. Ein Berg, das Meer, ein großer See vielleicht. Spuren von Zivilisation. Arkaden, eine Brücke, poröses Gemäuer. Dahinter und darunter schäumt es weiß, durchsetzt von Magenta, das bildbestimmend wird. Im Zentrum die Blauanteile erhöht, ins Violett tendierend, eine zentrale Linie, die doch keinen Horizont ausmacht; die mehr an die Strukturen des Unterirdischen erinnert. Darunter eine Spiegelung im Wasser, eine Lache aus hellem, verblichenen Rosarot.
Eine Landschaft über und über mit Rottönen überzogen. Eine Landschaft der Erinnerung – an Menschen, die dort gelebt haben, die dort gestorben sind. „Was blühte dort Mutter“, so der Titel der Arbeit und der gleichnamigen Serie nach Zeilen aus dem Gedicht Wolfsblume von Paul Celan.

Gedächtnissplitter und Traumblüten
Die Künstlerin illustriert die Gedichte nicht, sondern begibt sich in den Dialog, erforscht die Tiefenschichten der Verse und Rhythmen, spiegelt das Lyrische und die Konnotation von Worten in ihren Abstraktionen. Gedanken und Gedächtnissplitter fließen in die Malerei ein. Lagern sich in den Schichtungen aus Pigmenten und Seide, aus Kohle und Grafit, aus Talkum-, Alabaster- oder Mamormehlen ab. Sprachbilder und Sprachklänge, Sätze und Satzfetzen, manchmal nur ein einzelnes Wort, Erinnerungen und Traumblüten scheinen durch die Künstlerin hindurchzugehen. Verflechten und verknäulen sich, entzünden, wecken, entdecken neue Bilder und Formen, Farben und Materialzusammensetzungen, die sich rot oder grau, orange oder blau sprechend ablagern. Zu Spuren, Fragmenten und Zeichen werden, über die wir unsere Gedanken dann mit einem Gedicht und Gesteinsmehl, mit einer Zeile und einem Pigment verbinden können.

Wege in eine geheimnisvolle Welt
Da, wo Schrift erkennbar wird, ist sie überschrieben. Manchmal so oft bis sie nicht mehr zu entziffern ist, im Unleserlichen neue Deutungen angeschoben werden. Es ist der Klang der Worte, der Anklang ihrer Bedeutungsebenen, der in den Überlagerungen Offenheit entfaltet. Jedes Wort ein Spalt, jeder Farbton ein Türöffner, jede Erdkrume ein Weghinweis in eine geheimnisvolle Welt.
Carola Czempik vermag sie zu durchwandern, lässt die Worte, die Lyrik und deren Sinnenhaftigkeit durch ihre Gedanken, ihr Gedächtnis pulsieren, findet neue Bahnen in den Transformationen von Material und Farbe.
Es alabastert und spinellt, es marmoriert und stäubt. Es raschelt das Japanpapier, es fließen die Bindemittel, das kalte Acryl, das heiße Wachs, es malen die Mehle von Granit und weißem Talkum, der Kohlestaub, die Ascheflocken.

Spurenlese
Dichotomien von Materie, Dichotomien des Seins, der Conditio Humana. Schwarz und Weiß, heiß und kalt, Liebe und Hass, hell und dunkel, Leben und Tod, flüssig und fest, Krieg und Frieden.
Als Carola die Arbeit an diesen Serien und ihren künstlerischen Dialog mit der Lyrik von Paul Celan und Rose Ausländer begonnen hat, war der grausame Krieg gegen die Ukraine noch undenkbar.
Durch Gedichte wie Bukowina von Rose Ausländer oder Wolfsbohne von Paul Celan sowie durch die Biographien der Dichterin und des Dichters, beide wurden (Rose Ausländer 1901, Paul Celan 1920) in Czernowitz geboren – begann Carolas Auseinandersetzung mit der Landschaft in der West-Ukraine, mit ihrer Geschichte und mit dem Impuls des Wachhaltens der Erinnerung. An die Gräueltaten der Diktatur des Nationalsozialismus und die Katastrophen des Zweiten Weltkriegs, an die Shoah.
Noch einmal Wolfsblume von Paul Celan:
„Weit, in Michailowka, in
der Ukraine, wo
sie mir Vater und Mutter erschlugen: was
blühte dort, was
blüht dort?“

Das Rot von Krieg und Widerstand
Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zog das Rot in die Bilder von Carola Czempik. Das blutverschmierte Rot des Kriegsgeschäfts, aber auch das Lebenskraft spendende, energetische Rot des Widerstands der Menschen.
Hoffnung ein Stück weit, dass der blätternde Putz in „Was blühte dort Mutter“, das Gewalt und Zerstörung ein Ende finden. In den lichten Flecken im Zentrum des Bildes und aus dem Untergrund sich Aufbau und Neues ankündigen.
Von der Verwandlungskraft der Farbe, die bei Carola Czempik ja immer mehr Farb-Körper ist, und der Verwandlungskraft von Natur. Von den Erdfarben und der natürlichen Materie, die diese Prozesse leicht brodelnd in Bewegung versetzen.
Eräugtes Dunkel darin. Im Äugen ist der Blick aktiv und bewegt; angestrengt, sagt der Duden, wir sagen: fokussiert, die Wahrnehmung schärfend. Bilder und Dinge, Formen und Erinnerungen anders, neu, entdecken.
Denn Carola Czempiks wunderbare Bilder sind für sich ja nie fertig, nie abgeschlossen. Unter der Oberfläche brodelt und kriecht und parliert es. Es stecken ja Worte im Verborgenen. In den Tiefen der Schichten, in den Untiefen auch, verhelfen sie unserer Phantasie zu schnurren.

Andere Dialoge
Lassen Sie mich abschließend noch auf die „anderen Dialoge“ kommen. Auf Carolas Dialoge mit Kolleg*innen unterschiedlicher Sparten. Da ist zum einen im Kabinett die Duo-Arbeit „Briefe an E.“, die Carola gemeinsam mit der Video-Künstlerin Betina Kuntzsch entwickelt hat. 2015 entstanden, setzt sie sich wiederum mit Emma Hauck auseinander, deren künstlerische Arbeiten und Briefe aus der Zeit um 1900 in der Sammlung Prinzhorn dokumentiert sind.
Zum anderen darf ich bereits jetzt auf ein Konzert zur Finissage hinweisen, mit der Violinistin Alexa Renger, mit der Carola ebenfalls für verschiedene Projekte kooperiert hat.
Verbleibt mir noch Carola Czempik ganz herzlich zu Danken für ihre Bilder und die schöne und intensive Zusammenarbeit – auch die Konzeption einer Ausstellung ist schließlich eine Form von Dialog.

Ihnen und Euch danke ich für die Aufmerksamkeit!